Gedenken an Leo Karrer

11. Jan. 2021

«Gott nicht zu klein denken und die Kirche nicht zu gross.» So beantwortete der Pastoraltheologe Leo Karrer einmal die Frage, wie er sein theologisches Grundanliegen formulieren würde. Und gleich darauf betonte er den Bezugspunkt dafür: den Menschen in seiner Würde und besonders die Christinnen und Christen in ihrer gemeinsamen Sendung.

Am vergangenen Freitag verstarb Leo Karrer im Alter von 83 Jahren. Die Arbeitsgemeinschaft Praktische Theologie Schweiz verliert mit Leo Karrer ihr ältestes Mitglied, einen liebenswürdigen Weggefährten, geistreichen Gesprächspartner und grossen Theologen. Sein Werdegang bildete den Aufbruch der Kirche und die Blüte der katholischen Theologie im 20. Jahrhundert ab.

«Christlicher Glaube ist im Grunde genommen wirklichkeitssüchtig.» (Katholische Kirche Schweiz, 1991, 494)

Klassisch in der systematischen Theologie ausgebildet, wurden ihm die Angelpunkte des Glaubens zu pastoralen Fragen. Damit repräsentierte er pionierhaft die Aufgabe der Praktischen Theologie, die zeitlich konkreten Bedingungen von Leben, Gesellschaft und Welt als Orte der Theologie ernst zu nehmen. Dies vereinte ihn mit seinen Kollegen und Freunden und bescherte ihm Beachtung über die Schweiz hinaus. Mit seinem systematisierenden wie erfahrungsbezogenen Zugang und kritischem Geist erwies er der Praktischen Theologie grosse Dienste und bestärkte zugleich unzählige Frauen und Männer in ihrem Selbstbewusstsein und Engagement in der katholischen Kirche.

«Ohne die Laien kommt die Kirche nicht zur Welt. Und ohne Kirche kommt das Christsein nicht zur Welt.» (Die Stunde der Laien, 1999, 336)

Das Leben führte den jungen Steyler Missionar weg vom Weihewunsch in eine Promotion in Dogmatik und eine pastoraltheologische Habilitation und zum Ehemann und Familienvater – mit all den damit verbundenen Realitäten, die er bis zum Schluss auskostete. Am Rande von Sitzungen oder auf Zugfahrten berichtete er immer wieder von Einsätzen als grossväterlicher Babysitter und staunte über die Wege und Geschicke seiner Kinder und Enkel. Glaube war für ihn zutiefst Erfahrung und von den menschlichen Erfahrungen nicht zu trennen.

«Es genügt keineswegs zu sagen, was Laien tun dürfen, vielmehr ist theologisch zu begründen und zu bedenken, wer sie sind.» (Die Stunde der Laien, 1999, 146)

Im Beruf stellte Leo Karrer als einer der ersten «Laientheologen» seine Kompetenz in die Dienste der Bistümer Münster und Basel. Seine Tätigkeiten als Mentor und später als Personalverantwortlicher bestärkten ihn, sich für die Würde der Christinnen und Christen im kirchlichen Dienst, im Ehrenamt und Lebensalltag einzusetzen. Er wurde zum Professor für Pastoraltheologie an die Universität Fribourg berufen und wurde auch in der Öffentlichkeit bald zum «Theologen der Laien». Dabei stellte er gerade den Begriff der «Laien» in Frage, denn er bemühte sich um das «Volk Gottes» als verbindliche Gestalt von Kirche, wie sie sich auf dem zweiten Vatikanischen Konzil herausgeschält hatte. Um das Volk Gottes, das aus allen Christinnen und Christen zusammengefügt ist, ob für ein Amt geweiht oder nicht. In seinen Beiträgen kritisierte er Klerikalismus und die fehlende Umsetzung der Volk-Gottes-Verfassung im kirchlichen Leben und Recht. Dabei eckte er nicht selten an und seine Texte mögen noch lange die Kirche «beunruhigen».

«Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden wächst letztlich weder von oben noch von unten, weder von rechts noch von links, sondern von innen her.» (Die Stunde der Laien, 1999, 335)

Bis ins hohe Alter hielt Leo Karrer fest an seiner Hoffnung auf eine glaubwürdigere Kirche. Zunehmend gebremst von den Folgen einer früheren Lungenerkrankung, forderte er immer einen langen Atem für die Verwirklichung einer menschenfreundlichen Kirche. Ein Revolutionär wollte er nicht sein und hatte keine Patentrezepte. Schon am Schluss seiner Habilitationsschrift Der Glaube in Kurzformeln aus dem Jahr 1976 lehnte er die Vorstellung ab, alles sprachlich auf einen Punkt bringen zu können, weil dies der Dynamik und Konkretheit des christlichen Glaubens widerstrebt. Er stellte lieber «dumme Fragen» zur katholischen Kirche Schweiz und setzte auf Moratorien, Brut- oder Experimentierphasen, Dialog und gemeinsames Lernen. So beschrieb er sich gern als «unverbesserlich katholisch» und setzte auf einen charismatischen Aufbruch seit dem 19. Jahrhundert, den das Konzil bloss sichtbar gemacht hatte. Dabei übersah er nie die gesellschaftlichen Umbrüche und kirchlichen Abbruchbewegungen der letzten Jahrzehnte. Aber dies wie auch sein Altern sah er schlicht als ein Werden.

«Für mich als Mensch, der sich und anderen und Gott gegenüber angewiesener Schuldner bleibt, bedeutet Sterben endgültiger Absturz ins Dunkel eines undurchdringlichen Nichts. Von uns her ist nichts zu beschönigen. Der Glaube ist oft nur wie ein flackerndes Licht im undurchdringlichen Dunkel.» (Glaube, der das Leben liebt, 2014, 109)

Dem Sterben sah Leo Karrer ebenso ins Auge wie den Zweifeln angesichts der oft harten Bedingungen menschlicher Existenz, Angst und Not. Auch sein eigenes Erschwachen konnte er nicht übersehen, musste sich einschränken und Operationen unterziehen. Aber im Vertrauen auf Jesus, wie er selbst schrieb, hoffte er, dass der unaufhaltbare Sturz ins Dunkel ein Fallenlassen in das Dunkel einer von Gott her geretteten und geheilten Zukunft sein wird. Mit Karl Rahner, einem seiner theologischen Lehrer, deutete er Sterben als das Ende einer lebenslangen Geburt, als Aufbruch zur Vollendung. Er sprach stets von seiner Dankbarkeit für ein reiches Leben und die erfahrene Liebe. Es schien bei allen auftauchenden Gebrechen eine Zeitlang so, als wollten vor allem seine Lachfalten tiefer werden. Und er konnte bis zuletzt seinen Mitmenschen Beistand sein. Man konnte sich bis zum Schluss trefflich mit ihm unterhalten. Sein Interesse versiegte nicht und Freundschaften pflegte er noch am vergangenen Weihnachtsfest, so gut es in dieser schwierigen Zeit eben ging. Aber unsere Begegnungen mit ihm waren seltener geworden. Jetzt konnte sein Körper nicht weiter «werden».

«Wenn immer es sich um wesentliche Prozesse und Entscheidungen im Leben handelt, bezahlt man mit sich selber. Auch mit dem Glauben ist es so.» (Die Stunde der Laien, 1999, 335)

Wir sprechen Maria Karrer-Leuker und seiner ganzen Familie unser herzliches Beileid aus. Möge Leo Karrer ruhen in Frieden!

St. Gallen, 10. Januar 2021

Für die Arbeitsgemeinschaft Praktische Theologie Schweiz:
Prof. Dr. Manfred Belok (Vorsitzender), Chur
Prof. Dr. Stephanie Klein (stv. Vorsitzende), Luzern

Für das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut:
Tit.-Prof. Dr. Arnd Bünker, St. Gallen
Jörg Schwaratzki (Sekretär der Arbeitsgemeinschaft), St. Gallen

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