Das Morgenrot eines neuen Christentums

Juli 13, 2017 | News

„Im Fotoausschnitt sind Bilder aus Alexandras Wohnung zu sehen. Alexandra hat sie selber angefertigt, um damit Etappen aus ihrem Leben festzuhalten und zu verarbeiten. (Foto: sf)“

Im Fotoausschnitt sind Bilder aus Alexandras Wohnung zu sehen. Alexandra hat sie selber angefertigt, um damit Etappen aus ihrem Leben festzuhalten und zu verarbeiten. (Foto: sf)

Stellen Sie sich eine junge Lateinamerikanerin vor. Sie kniet in innigem Gebet vertieft auf dem Boden einer kleinen Zelle, wo sie seit Monaten in Isolationshaft lebt. Ihr Gesicht ist mit Tränen überströmt. Die kolumbianische Mafia hat ihr Leben zerstört. Aus ihren Augen blickt blankes Entsetzen. Sie fürchtet sich davor, langsam den Verstand zu verlieren. Nun richtet sie ihren Blick zu einer kleinen Fensterluke, durch die ein Sonnenstrahl ihre graue Zelle erleuchtet. Und da! Auf einmal hat sie die zündende Erkenntnis, wie Gott sie aus dieser Situation befreien wird.

 

 Wie es dazu kam

Wenn man beruflich mit Menschen biographische Interviews führt, trifft man immer wieder auf erstaunliche Lebensgeschichten. Genau genommen hat jede Lebensgeschichte etwas Faszinierendes, Menschliches und Berührendes an sich. Aber das Leben von Alexandra, das ich Ihnen hier schildern möchte, sticht wegen seiner Dramatik und den wiederholten Schicksalsschlägen hervor. Gleichzeitig zeigt es, welchen Halt Religion in schwierigen Lebenssituationen bieten kann, gerade dann, wenn alle anderen Stricke im Leben reissen.

Die Geschichte von Alexandra beginnt im Kolumbien der 1980er Jahre. Zu dieser Zeit war sie 20 Jahre alt und arbeitete als Schmuckmacherin. Im Interview mit mir erzählt sie, wie sich ihr Leben schlagartig änderte, als sie eines Tages für ein Geschäft mit viel Geld unterwegs war und überfallen und bestohlen wurde. Durch den Diebstahl verschuldete sie sich bei dem Mann, für den das Geld bestimmt war. Wie sich später herausstellte, gehörte dieser zur kolumbianischen Mafia. Alexandra vermutet daher, dass der Überfall nur ein abgekartetes Spiel war, um sie in seine Abhängigkeit zu treiben.

Da sie das Geld nicht zurückzahlen konnte, wurde sie von der Mafia dazu verpflichtet, ihre Schuld mit Diensten abzuzahlen. Kurze Zeit später zog sie in deren Auftrag in die Schweiz, wo sie für die Verteilung von Kokain zuständig war. Wie sie mir erzählt, entfachte dieses Geschäft ihren Geschäftssinn. Um ihre Schulden schneller abzahlen zu können, organisierte sie kurzerhand einen eigenen Drogenring. Doch als sie ihre Schulden endlich beglichen hatte, wurde sie von der Schweizer Polizei gefasst und in ein Männergefängnis in Isolationshaft gesteckt.

 

Die Bekehrung

Im Interview erzählt mir Alexandra, dass sie ihre Zelle mit einer merkwürdigen Mischung aus Dankbarkeit und Reue betrat. Zum einen bereute sie es, vom richtigen Weg abgekommen zu sein. Gleichzeitig verspürte sie Dankbarkeit darüber, dass sie nun nicht mehr gezwungen war, den eingeschlagenen kriminellen Lebensweg weiterzugehen:

„Um 3 Uhr morgens haben sie mich ins Gefängnis gebracht. Als sie die schwere Tür schlossen, machte es: ‚K-k-k Boom!‘ Und ich fiel auf die Knie und sagte nur: ‚Danke mein Gott! Danke, dass ich hier bin!‘ Denn, wäre ich nicht dort gewesen, wäre ich heute entweder tot oder die Königin des Kokainhandels.“

In der Einsamkeit ihrer Zelle besann sich Alexandra auf den Glauben ihrer Eltern. Im Interview schildert sie mir, wie sie täglich zu beten begann und unter Tränen eine innere Bekehrung durchlief. Sie hörte auf zu rauchen, ertüchtigte sich körperlich und erfuhr eine neue innere Ruhe. Doch die lange Isolationshaft setzte ihr auch psychisch zu. Ihre Anwältin sagte später vor Gericht aus, dass die Haftbedingungen gegen die Menschenrechte verstiessen.

Wie mir Alexandra weiter berichtet, kam sie zwar nach anderthalb Jahren mithilfe ihrer Anwältin von der Isolationshaft los, doch folgte bald darauf ein weiterer Schicksalsschlag: Ihr wurde mitgeteilt, dass sie sechs Jahre im Gefängnis bleiben müsse. Als sie dies erfuhr, nahm sie in einen Zug alle Antidepressionspillen, die sie über die vergangenen Monate in einem Becher gesammelt hatte. Was laut Alexandra dazu führte, dass sie beinahe an einer Überdosis starb.

 

Die Befreiung

Aufgrund der Überdosis blieb sie für mehrere Wochen ans Bett gefesselt. Wie sie mir erzählt, war der einzige Trost, den sie zu dieser Zeit hatte, ihr Gebet und das Gefühl, dass Gott auch in dieser Situation bei ihr war und sie täglich in eine väterliche Umarmung schloss.

Im Interview schildert sie weiter, wie sie eines Tages im Gebet eine Männerstimme zu vernehmen glaubte, die zu ihr sprach: „Meine Tochter! Erhebe dich, ich werde dich befreien! Erhebe dich und kämpfe!“

Gleich darauf setzte sie sich mit ihrer Anwältin in Verbindung und bestürmte sie, mit den Worten: „Wir müssen gegen mein Urteil in Berufung gehen! Gott hat zu mir gesprochen! Er wird mich befreien!“

Die Anwältin hätte gute Gründe gehabt, um an der Urteilsfähigkeit ihrer Klientin zu zweifeln, dennoch gab sie nach und ging in Berufung. Alexandra beschreibt, wie ihre Anwältin am Tag des Gerichts ein eindrückliches Plädoyer hielt. Sie verwies auf die menschenunwürdigen Haftbedingungen und verlangte die sofortige Freilassung ihrer Klientin. Zur Überraschung aller, wurde der Berufung stattgegeben und Alexandra kam frei. Sie beschreibt diesen Moment mit folgenden Worten:

„Der Anwältin liefen die Tränen über das Gesicht und sie sagte mir immer wieder: ‚Ich weiss nicht, was für einen Gott du hast! Ich weiss nicht, was für einen Gott du hast!‘“

Noch heute bewahrt Alexandra die Zeitungsartikel auf, die von ihrem Leben zeugen. Während unseres Interviews zeigt sie immer wieder darauf. Sie hängen in ihrem Wohnzimmer als Erinnerung daran, was ihrer Meinung nach Gott für sie getan hat. Schliesslich, so sagt sie, sei sie seit ihrer Freilassung ein neuer Mensch geworden. Und sie wolle diese zweite Chance dazu nutzen, auch anderen Menschen die Hoffnung zu geben, die sie selbst in der qualvollen Situation im Gefängnis erhalten hat. Daher engagiere sie sich seit ihrer Entlassung in verschiedenen Pfingstkirchen und predige ihr Lebenszeugnis, das bald auch als Buch erscheinen soll.

 

Das Morgenrot eines neuen Christentums

So wie wir in diesem Jahr auf 500 Jahre Reformation zurückschauen, wird man in 500 Jahren auf das 20. Jahrhundert zurückschauen als die Geburt des pentekostalen Christentums. Protestantische Pfingstkirchen und katholische Charismatiker finden hierzulande bislang zwar nur wenig Aufmerksamkeit, doch international gehören sie zu den am schnellsten wachsenden religiösen Bewegungen dieser Zeit.

Ihr direkter und unbedarfter Zugang zu religiösen Themen werden oft belächelt oder gar als gefährlich abgekanzelt. Ein kritischer Blick mag zwar gerechtfertigt sein. Oft gerät dabei jedoch aus dem Blick, dass gerade dieser unbedarfte und direkte Zugang zur Religion der Schlüssel dazu ist, der es Menschen wie Alexandra ermöglicht, in schwierigen Situationen „wiederaufzuerstehen“ und ihr Leben von Grund auf neu zu erfinden. So kann selbst aus einer niedergeschlagenen Sünderin eine heroische Apostelin werden.

 

Sie sind neugierig geworden? Die in diesem Artikel angesprochenen Themen werden zurzeit am SPI im Rahmen eines Forschungsprojektes zu spanischsprachigen christlichen Migranten untersucht. Für weitere Informationen finden Sie auf unserer Website unter der Rubrik „Forschung“

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