Perspektivenwechsel – Religionssoziologie für Religionspädagogen

Mrz 22, 2017

Studierende des Religionspädagogischen Instituts in Luzern (RPI) befassen sich während mehreren Jahren mit der wichtigen und vielschichtigen Frage der Weitergabe des christlichen Glaubens.

Sie haben den Studiengang gewählt, weil es ihnen ein Anliegen ist, Menschen für die religiöse Dimension des Lebens zu sensibilisieren. In ihrem Beruf möchten sie Jugendliche und junge Erwachsene unterstützen, die Fragen des Lebens zu stellen und mit der christlichen Botschaft in Verbindung zu bringen.

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Religionssoziologie als Sehhilfe für angehende ReligionslehrerInnen

Aus eigener Erfahrung wissen die Studierenden, die oft schon Praxiserfahrungen aus den Pfarreien mitbringen, dass die Weitergabe des christlichen Glaubens heute keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Gerade die jüngeren Generationen distanzieren sich zunehmend von der Kirche und ihr Wissen über den christlichen Glauben ist meist sehr gering.

Trotzdem sind die angehenden KatechetInnen, JugendarbeiterInnen und ReligionslehrerInnen motiviert, das religiöse Wissen und die christlich-kirchlichen Traditionen weiterzuvermitteln. Am RPI wollen sie sich dafür fit machen. Denn es ist ihnen bewusst, dass es in einer Zeit des raschen Wandels nicht mehr ausreicht, die Dinge so zu machen, wie man sie immer schon gemacht hat. Vielmehr braucht es immer wieder neue Zugänge und eine verständliche Sprache, um den christliche Glauben auch für distanzierte und junge Menschen anschlussfähig und relevant zu kommunizieren.

Darum braucht es neben theologischem und pädagogischem Wissen auch Kenntnisse über den gesellschaftlichen Wandel und über die veränderten Bedingungen der Religion in der Gesellschaft. Die Religionssoziologie wird hier zur Sehhilfe für Fragen nach dem Wie und Warum des gesellschaftlichen und religiösen Wandels.

Aller Anfang ist schwer

Religionssoziologie für angehende PraktikerInnen der Religionspädagogik – kann das gut gehen? Die wissenschaftliche Disziplin bedient sich nicht gerade einer einfachen Fachsprache und operiert mit komplexen Theorien und Forschungsmethoden.

Als Dozentin bin ich herausgefordert. Wie kann ich den «Schatz» der Religionssoziologie für Aussenstehende so erschliessen, so dass diese ihn verstehen und nutzen können? Das ist keine leichte Aufgabe und ich sehe mich vor ähnliche Schwierigkeiten gestellt wie sie Religionslehrpersonen haben, wenn sie vor einer Klasse religiöser Analphabeten stehen.

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Eine Aussage einer Studentin am Religionspädagogischen Institut der Universität Luzern

Am Anfang tat ich mich etwas schwer mit dem Fach Religionssoziologie. Ich hatte den Eindruck nicht viel zu verstehen und das ganze schien mir sehr theorielastig zu sein. Ich dachte mir, die Religionssoziologie wird nicht mein neues Lieblingsfach.

In die Soziologie eintauchen

Natürlich sind soziologische Begriffe oft gewöhnungsbedürftig. Wer soll schon auf Anhieb verstehen, was mit «funktionaler Differenzierung», «kulturellem Kapital» oder «Transzendenzbewältigung» gemeint ist? Und auch auf den zweiten Blick wird es nicht einfacher, denn hinter den Wörtern tut sich eine Welt von komplexen theoretischen Konzepten zur Erklärung der sozialen Wirklichkeit auf.

Wer in die Soziologie eintauchen will, muss also eine neue Sprache erlernen, um die Ordnungssysteme dieser Wissenschaft verstehen zu können. So kann es schon vorkommen, dass die eigenen Ordnungen durcheinander geraten. Denn der religionssoziologische Blick verlangt einen Wechsel von der Innenperspektive theologisch-kirchlichen Denkens zu einer Aussenperspektive auf Religion und Kirche. Mit diesem Perspektivenwechsel verlassen die Studierenden ihre Sicherheitszone. Sie öffnen den eigenen Wissens- und Erfahrungshorizont für Neues. Vertrautes und bisher Selbstverständliches wird plötzlich hinterfragbar und es zeigen sich eingeschliffene Denkmuster. Öffnet sich mit der religionssoziologischen Schau auf die Wirklichkeit gar die Büchse der Pandora?

Religionssoziologie versus Glauben?

Der Perspektivenwechsel ist für viele keine einfache Sache, denn im Lichte der Religionssoziologie zeigt sich auch die eigene Religiosität plötzlich als Variante von Religiosität und die Kirche, in der man gross geworden, wird zur Variante religiöser Vergemeinschaftung. An diesem Punkt des Lernprozesses stellt sich dem einen oder der anderen darum die Frage:

Kann ein Religionssoziologe, eine Religionssoziologin überhaupt religiös sein?

Hinter dieser Frage steht letztlich die Sorge, mit dem religionssoziologischen Blick auf Religion den eigenen Glauben zu demontieren. Das ist eine zwar verständliche, aber letztlich unnötige Sorge. Die Religionssoziologie als Wissenschaft will primär ihren Gegenstand beobachten, um ihn zu verstehen und zu erklären. Sie ist darum keine Moralwissenschaft, die Menschen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Sie ist darum weder parteiisch, noch apologetisch und klammert die Wahrheitsfrage ein. Sie fokussiert vielmehr auf das Wie und das Warum menschlichen Glaubens und interessiert sich für die Folgen religiösen Denkens und Handelns für Individuum und Gesellschaft. Die Religionssoziologie geht also von der Existenz und Wirkung von Glaubensvorstellungen und Glaubenspraktiken aus, ohne sich um die Wirklichkeit dessen, was geglaubt wird, kümmern zu müssen.

Hier kann der Inhalt erstellt werden, der innerhalb des Moduls benutzt wird.

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Die Religionssoziologin und der religiös Glaubende nehmen also unterschiedliche Perspektiven auf die Wirklichkeit ein und entwickeln entsprechend unterschiedliche Ordnungen dieser Wirklichkeit. Diese Ordnungen oder Erklärungen schliessen sich weder gegenseitig aus, noch müssen sie in Konkurrenz zueinanderstehen.

 

Die Erkenntnis über den Perspektivenwechsel und seinen Nutzen stellt sich bei den meisten Studierenden im Verlaufe des Semesters ein. Als Dozentin bin ich an diesem Punkt jeweils erleichtert, denn die grösste Hürde ist geschafft. Wenn die anfängliche Skepsis der Studierenden dem Fach gegenüber dann auch noch einem neuen Wissensdurst nach mehr religionssoziologischen Erkenntnissen weicht, schlägt mein Herz höher….
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StudentInnen fassen zusammen

Meine kritische Einstellung gegenüber dem Fach konnte ich vollständig ablegen. Die spannenden Vorlesungen, haben uns in eine Thematik «entführt», die uns eher fremd war. Es tut gut, nicht immer nur aus der «inneren Sicht» zu sprechen und zu analysieren, sondern auch mal von der «Aussenperspektive» auf «unsere» vertraute Kirche zu schauen.
Bereits habe ich etliche Gespräche geführt, in welchen ich auf das Gelernte zurückgreifen konnte, von Durkheim über Weber, die Frage nach Spiritualität, Säkularisierung oder eben die Religion im Hinblick auf Migration. Ich finde das Themenfeld der Religionssoziologie ist in höchstem Masse brandaktuell.

Der Mehrwert der Religionssoziologie
Die Auseinandersetzung mit religionssoziologischen Theorien, Methoden und Erkenntnissen ist zugegebenermassen nicht immer prickelnd und der Praxisbezug liegt nicht in jedem Fall auf der Hand. Schliesslich liefert die Religionssoziologie keine fixfertigen Handlungsanleitungen.
Ihr Gebrauchswert zeigt sich aber dort, wo sie gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Prozesse erhellen kann: die Lage und den Wandel der Religion in der Gegenwartsgesellschaft, der Umgang des Individuums mit Religion, die Funktion religiöser Gemeinschaften, den Einfluss der Migration auf Religion, die Entstehung von Fundamentalismen usw. Das Wissen befähigt die Verantwortlichen in der Praxis zu einem reflexiven und zielorientierten Handeln, denn die religionspädagogische Praxis findet genau unter diesen Rahmenbedingungen statt. Gleichzeitig macht die Religionssoziologie auch ein Entlastungsangebot: Informierte PraktikerInnen wissen sehr genau, dass nicht alles, was in ihrer beruflichen Praxis geschieht, eine blosse Folge ihres eigenen Handelns ist.
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Literaturhinweis für PraktikerInnen

Albert Scherr (Hrsg.): Soziologische Basics: Eine Einführung für pädagogische und soziale Berufe, 3. Auflage, Verlag Springer, Berlin 2016.

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Dr. Eva Baumann-Neuhaus

Wissenschaftliche Projektleiterin

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